Mein Vater starb im Alter von 95 Jahren im Januar 2021. Meine drei Geschwister und ich haben jeweils eine Rede für seine Trauerfeier gehalten. Es fand wegen Corona durch zoom im Internet statt. Das war wunderbar, da jedes Gesicht der vielen Menschen zu sehen war und weil jede/r etwas erzählen konnte. Viele haben Loblieder gesungen und von schönen Erlebnissen mit ihm berichtet.
Wie mein jüngster Bruder kommentierte, "Es ist bemerkenswert, dass vier Kinder im selben Haus mit denselben Eltern aufwachsen und denselben Kühlschrank benutzen und am Ende völlig unterschiedliche Geschichten über ihre Kindheit verinnerlicht haben." Eine von uns war das Lieblingskind. Einer von uns erfüllte die Rolle des Kindes gut und wurde mit Phasen gemeinsamer Zeit und gemeinsamen Projekten belohnt. Einer von uns war der Sündenbock für alles. Und eine von uns ist mit 16 Jahren ausgezogen, als sie es logistisch frühestens schaffen konnte. Ich bin das letztgenannte Kind. Ich fühlte mich gemobbt, beschimpft und nicht als geschätztes Individuum wahrgenommen. Ich wusste, dass mein Selbstwertgefühl dort in der Familie Gefahr war, und suchte nach Menschen, die mich sehen und wertschätzen konnten. Es war eine Reise voller Herausforderungen, denn das Verhalten meines Vaters mir gegenüber wurde in der Kultur der 1950er, 60er und 70er Jahre als letztgültig und nicht in seiner Berechtigung widerlegbar angesehen.
Die Gedenkfeier für meinen Vater war sehr bewegend. Zurückzublicken und die Geschichten von anderen zu lesen und zu hören, die meinen Vater erlebt haben, eröffnete mir eine neue Perspektive auf ihn. Offensichtlich war er ein liebevoller und kompetenter Vater, ein loyaler Freund, ein engagierter und mitfühlender Partner seiner zweiten Frau, ein verspielter, weiser, wunderbarer, kreativer, erfolgreicher, geschätzter und geliebter Mann. Aber warum war er dann so anders zu mir und ein paar anderen in der Familie? Wie konnte er so ein schöner, geliebter Mensch sein und gleichzeitig ein verbal sarkastischer, gemeiner, sadistischer und erniedrigender Tyrann, der genau wusste, wie er sein Opfer manchmal aus Wut, aber auch einfach aus Spaß verletzen und verkrüppeln konnte?
Ein Teil der Antwort kommt aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit der Entwicklung des Neokortex vor etwa 2 Millionen Jahren konnten wir Menschen die Wahrnehmungsperspektive wechseln und uns so von unseren natürlichen Bindungen zur Natur und zu anderen Menschen lösen. Es ist heilsam und hilfreich für mich, zu wissen, dass mein Gehirn das auch kann. Das Gehirn ist in der Lage, den anderen als ein Objekt meines Verhaltens oder einfühlsam als ein lebendiges Wesen wie mich selbst wahrzunehmen. Unsere Kultur hat uns eingeprägt, hin und her zu schalten, ohne dass wir es unbedingt bemerken.
So können wir viele Arten von Waffen einsetzen, um andere im Dienste des Vergnügens, des materiellen Gewinns oder des Selbstschutzes zu verstümmeln oder zu zerstören. Dazu kommt, dass die Entwicklung von Normen hierarchischer Machtstrukturen einige merkwürdige Nebeneffekte hatte. Wir lernten zu glauben, dass, wenn die größere Gemeinschaft nichts sieht, hört oder sich berufen fühlt, einzugreifen, weil sie in ähnlichen Verhaltenskodizes gefangen ist, dann ist das, was wir tun und was uns geschieht, in Ordnung.
Während der einzigen gemeinsamen Reise, die wir unternahmen, fragte mich Dad eines Abends beim Essen, warum ich so weit weggezogen sei. Ich antwortete ganz einfach und ehrlich, dass ich von seinen Gemeinheiten wegkommen musste. Er antwortete, die seien sein gutes Recht. Solange ich an seinem Tisch säße, könne er mit mir machen, was er wolle. Ende des Gesprächs. Wir wechselten das Thema.
Ich erinnere mich an seine Freude über seine Macht, mich zu verletzen. Eine typische Szene am Esstisch in meiner Kindheit sah oft wie folgt aus: Ich war anfangs offensichtlich glücklich und sorglos. Er kommentierte meine gute Laune damit, dass er mich in wenigen Sekunden zum Weinen bringen könnte. Ich habe gelacht und sagte, „Geht heute nicht!“ Ein kurzer Lieblosigkeit später waren meine Freude und mein Selbstwertgefühl komplett zerstört. Ich verließ den Tisch in Tränen und er lächelte zufrieden. Ich begann schon sehr früh, meine Flucht zu planen. Ich nutzte aber auch die Zeit in der Familie, um mich unvoreingenommen mit den Rollen von Täter und Opfer auseinanderzusetzen, indem ich Szenen, die ich gesehen oder erlebt hatte, im Geiste nachspielte. Jeder tut das Beste, was er in einer bestimmten Situation tun kann. Ich lernte, die Befriedigung des präzisen und effektiven Angriffs gut zu verstehen. Diese imaginären Rollenspiele bereiteten mich darauf vor, später im Leben respektvoll und erfolgreich mit Gewalttäter zu arbeiten.
In den 50er und 60er Jahren lebten wir mit Sprüchen wie "Vertrautheit zeugt Verachtung.“ Nicht nur in der Familie fühlen sich Menschen mit der Komplexität von emotionalen Beziehungen oft überfordert. Verachtung, Gewalt oder Gemeinheit ist eine Art Spannungsabbau für mindestens eine der beteiligten Parteien. In der Familie fühlt sich der Täter vor sozialer Kontrolle geschützt und aus Mangel an Alternativen werden verschiedensten Formen der Gewalt zur Gewohnheit.
Viele prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren für sadistisches Verhalten innerhalb der Familie bekannt, während sie in der Öffentlichkeit das ideale Modell für gutes Benehmen darstellten. All dies wurde als normales Verhalten akzeptiert. Der Paradigmenwechsel, der sich jetzt in der Öffentlichkeit vollzieht, bringt mehr und mehr grausame Verhaltensweisen ans Licht, die in der Vergangenheit gängige Werkzeuge hierarchischer Macht und Ausbeutung waren. Allmählich fangen diese "normalen" Dinge an, falsch auszusehen. Die meisten Menschen, die diese Werkzeuge benutzen, sind im Großen und Ganzen gute Menschen. Die schönen Dinge, die so viele Menschen über meinen Vater zu sagen hatten und haben, während sie uns zu dem Verlust kondolieren, stehen in deutlichem Gegensatz zu dem, was einige wenige von uns innerhalb der Familie erlebt haben. Wir Geschwister fangen jedoch an, zum ersten Mal vorurteilsfrei darüber zu sprechen. Möglicherweise tasten wir uns sogar kollaborativ in einem gemeinsamen Verarbeitungsprozess vor.
Ich war nicht nur das Ziel der Gemeinheiten, die damals als gesellschaftsfähige Kindererziehung galten, sondern wir hatten auch schöne gemeinsame Erlebnisse. Wir sangen zusammen und übten das Lachen in Tunneln, um die Echos zu genießen. Ich sammelte eine kleine Bibliothek von zitierfähigen Vatersprüchen, die als Affirmationen und hilfreiche Verhaltensanleitungen weise und nützlich sind. Als mein Vater mich einmal in Berlin besuchte, hat er damals einige handwerkliche Verbesserungen an meiner Wohnung vorgenommen, was mich tief berührte.
Als jüngeres Kind war ich voller Ehrfurcht vor seiner Einstellung zu den Tieren, die er jagte. Er erzählte mir, dass er seine Fähigkeiten zu schießen - sowohl mit Pfeil und Bogen als auch mit Gewehren - so verfeinerte, dass er seine Beute so schnell und präzise tötete, dass sie nicht leiden mussten. Diese Art von natürlicher Moral wurde eine Leitlinie in meinem Leben. In diesem Zusammenhang war er mein Idealbild eines Indianerhäuptlings. Ich habe mein Verständnis dieser Haltung später mit dem Buch der Wandlungen, dem I Ging, erweitert.
Die Widerhaken der Gemeinheiten aus meiner Seele, meinen Gedanken und meinem Selbstwertgefühl zu entfernen, war jedoch eine Menge Arbeit! Jede Minute dieser Arbeit war es wert. Ich lernte nicht nur, neue Angriffe abzuwehren, ohne verletzt, wütend oder defensiv zu werden. Ich entdeckte auch das Gefühl der Freude, in der Lage zu sein, den Täter zu lieben, während ich den Schüssen auswich! Ich lernte auch, sofort zu reagieren, seine Treffer zu vereiteln und Schaden zu verhindern. Ich lernte, meine Autonomie, Flexibilität und Geschicklichkeit beim Ausweichen von Angriffen zu genießen und trotzdem unsere Bindung zu nähren. Das hat ihm sogar eindeutig gefallen, obwohl er es nicht kommentierte.
Da ich so weit weg wohnte, lagen die Gelegenheiten, mit ihm zu üben, weit genug auseinander, so dass ich in Ruhe an meinen Fähigkeiten feilen konnte. In den letzten Jahren seines Lebens lebte er auf Maui und ich in Berlin, so dass sich unsere Begegnungen auf die digitalen Mittel von Skype, Telefon und E-Mail reduzierten, was die Distanzierungstaktik vereinfachte. Aber eine echte Herzlichkeit begann unsere Kommunikation zu bereichern. Es steht für mich außer Frage, dass einige der Voraussetzungen für diese schmerzfreie Kommunikation meine Autonomie und meine Bereitschaft waren, das Band der gegenseitigen Liebe auf der einen Seite und beidseitiges Wohlbefinden und Glück auf der anderen Seite zu nähren.
Darüber hinaus hatte ich in meiner verhaltenspsychotherapeutischen Praxis mit Paaren und kleinen Unternehmen, mit denen ich arbeitete, viele Gelegenheiten, ein breites Spektrum an Fähigkeiten zu entwickeln, um Menschen zu helfen, mit „Mobbing“ und Lieblosigkeiten umzugehen, liebevolle Umgang zu lernen und „das Böse“ in uns zu transformieren.
Hier ist ein Beispiel für eine Transformation von Widerhaken. Mein Vater sagte regelmäßig zu mir: Gib dich dem Unvermeidlichen gnädig hin. („Give in to the inevitable graciously“). Als Kind fühlte ich mich für meine Intensität und Bedürftigkeit damit lächerlich gemacht. Dieser Spruch bedeutete, dass meine Bedürfnisse nicht erfüllt werden würden und dass ich auf mich allein gestellt war, wenn ich Unterstützung, Aufmerksamkeit und Verständnis brauchte. Seit ich Psychotherapeutin geworden bin, zitiere ich diesen Spruch oft, weil er mir - als Erwachsene - und vielen meiner Patienten geholfen hat, eine Geisteshaltung zu finden, die aus innerer Ausgeglichenheit und Anmut besteht, während ich mit Dingen umgehe, die nicht durch inneren oder äußeren Druck beeinflusst werden können. Dieser Spruch - neben anderen - ist ein kostbarer Schatz geworden, den ich von ihm geerbt habe.
Mein Vater hat für seine Erfolge hart gearbeitet. Er stammte aus einem Arbeiterhaushalt und erwarb sich Respekt und Anerkennung für seinen Aufstieg zum Präsidenten mehrerer Unternehmen nicht nur wegen seiner Intelligenz und Findigkeit, sondern auch wegen seines investierten Fleißes. Seine Angewohnheit, alles zu investieren, was er hatte, brachte ihm ein Problem mit hohem Blutdruck ein. Als er sich in den Ruhestand zurückzog, ließ er jedoch vergnügt seine Verspieltheit und sein Mitgefühl zur Entfaltung kommen. Er schenkte Freude und Weisheit offenbar immer freizügig und wurde dafür sehr geliebt.
Er war ein bemerkenswerter Mensch. Er war kein idealer Vater für mich, aber er war ein erstaunliches Vorbild im Leben und eine Quelle der Weisheit. Sein ganzes Leben lang entwickelte er sich immer mehr zu seinem eigenen idealen Selbst. Er war nicht nur wirtschaftlich ein „self-made-man“. Er war in jeder Hinsicht unbestechlich. Bei jedem Schritt seines Lebensweges wählte er den Spaß, den Komfort und das notfalls hart zu erarbeiteten Wunder gegenüber dem Leid und dem, was er für Dummheit hielt. Er fragte sich immer: Ist das mein Job? Manchmal, wenn andere dachten, es sei sein Job, war er ganz klar und unumstößlich in seinem Urteil, dass es das nicht war. Er nahm nicht das Kreuz anderer Leute auf sich, aber manchmal erleichterte er ihnen die Fähigkeit, ihr Kreuz zu tragen. Und manchmal und bei einigen von uns in der Familie weigerte er sich einfach, eine Rolle zu übernehmen, z.B. die des Vaters oder des Mentors, wenn er nicht das Gefühl hatte, dass es seine Aufgabe war – vielleicht weil er schätze, er könne die Aufgabe nicht gut genug für seine Ansprüche lösen... Das ließ einige von uns im Regen stehen und durch Vernachlässigung oder Abwertung schwer verletzt. Die Lektion, die es zu lernen gilt, ist Autonomie, Nachsichtigkeit, Wertschätzung und die Fähigkeit, so zu reagieren und zu interagieren, dass der Spielplan geändert wird. Auch du kannst deine Erfahrung mit Lieblosigkeiten (eben Mobbing!) nutzen, um deine Verspieltheit und Geschicklichkeit zu entfalten. Probiere es aus! Zu erkennen, dass du – sowohl als Täter wie auch als Opfer - dein Leben mit den gleichen Fähigkeiten substanziell verbessern können, ist ebenfalls eine reizvolle Entdeckung. Ich empfehle sehr, sich damit zu beschäftigen!
Danke, lieber Vater, für all die Herausforderungen, die Weisheit und das Wachstum, das du in mir angeregt hast. Ich liebe dich vom Herzen. Ich bin sicher, dass Du in Frieden ins Licht gegangen bist. Ich kann immer noch dein Lächeln sehen, wenn du dich arglos gefreut hattest und lausche im Innern deinem Lachen und deiner Weisheit mit Freude.
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